Übermensch
- Martin Döhring
- vor 8 Stunden
- 4 Min. Lesezeit
Der vorliegende Text entfaltet ein eindrucksvolles Panorama der Geistesgeschichte, das von der platonischen Höhle bis zu Nietzsches „Umwertung aller Werte“ reicht. Im Zentrum steht die Frage nach der Immanenz des Übermenschen – jener Gestalt, die das Erbe der Aufklärung antritt, indem sie die transzendenten Illusionen endgültig überwindet. Der Übermensch ist nicht bloß ein moralisches oder anthropologisches Ideal, sondern eine ontologische Wende: Die Affirmation der Wirklichkeit selbst, ohne Rückzug in ein Jenseits, ohne metaphysische Ausflucht.

1. Von der Projektion zur Selbstverwirklichung: Die Genealogie der Täuschung
Der Text zeichnet zunächst die Linie der „menschlichen Selbsttäuschung“. Von Platons Höhle über Feuerbachs Projektionstheorie bis zu Kants Autonomiegedanken wird eine Bewegung sichtbar, die im Kern eine Selbstbefreiung des Menschen aus seinen eigenen Spiegeln darstellt.
Platon hatte die Schatten der Höhle als Sinnbild der Unwissenheit verstanden; doch sein „Ideenhimmel“ blieb ein transzendenter Fluchtpunkt. Feuerbach zog diese Transzendenz zurück ins Menschliche: Gott ist nichts anderes als das projizierte Selbst des Menschen. Kant schließlich zerstörte den metaphysischen Raum durch die Kritik der Vernunft – doch er ließ ein moralisches Residuum stehen, ein noumenales Reich, in dem die Freiheit als postulierter Glaube weiterlebt.
Nietzsche ist hier der radikalste Vollender: Er akzeptiert keine Spaltung mehr zwischen Diesseits und Jenseits, keine moralische Zweiteilung zwischen Sinn und Sünde. Seine Diagnose der Religion als „Chronik der Ausbeutung“ bedeutet nicht nur eine Kritik an den Institutionen der Kirche, sondern die Zertrümmerung der Transzendenz selbst. Der Übermensch ist das Wesen, das ohne übergeordnete Welt auskommt, weil er die Wirklichkeit als hinreichend begreift.
2. Der Tod Gottes und die Geburt der Immanenz
Wenn Nietzsche erklärt, „Gott ist tot – und wir haben ihn getötet“, dann ist dies kein Triumph, sondern ein Erdbeben. Mit dem Tod Gottes verschwindet der letzte transzendente Garant des Sinns. Was bleibt, ist die nackte Welt, ohne Fluchtpunkt, ohne göttliche Entlastung.
Hier setzt der Gedanke der Immanenz ein: Der Mensch muss lernen, in einer entgöttlichten Welt zu leben, nicht als nihilistischer Zerstörer, sondern als Schöpfer. Der Übermensch ist die Form, in der Immanenz bejaht wird. Er erkennt keine Wirklichkeit außerhalb der Welt an; er transzendiert, indem er nicht flieht, sondern intensiviert.
Die „Härte der Wirklichkeit“ ist für Nietzsche nicht zu beklagen, sondern zu umarmen. Religion, Moral und Metaphysik sind in dieser Sichtweise „magische Selbstverzauberungen“, Fluchtversuche vor der Last der Wirklichkeit. Der Übermensch dagegen verwandelt diese Last in Leichtigkeit – durch den Akt des amor fati.
3. Amor Fati: Die Ethik der Immanenz
Die Formel amor fati – die Liebe zum Schicksal – ist Nietzsches ethische Antwort auf die entzauberte Welt. Sie bedeutet nicht bloß Ertragen, sondern Verlieben in die Notwendigkeit. Der Übermensch liebt die Welt, weil sie ist, wie sie ist; er will nicht, dass sie anders sei.
Diese Haltung ist der eigentliche Kern der immanenten Philosophie. Während die Religion Sinn durch einen transzendenten Ursprung erzeugt, erzeugt der Übermensch Sinn aus der Tiefe des Diesseits. Er bedarf keiner metaphysischen Begründung, weil sein Wille selbst Begründung ist – der Wille zur Macht als schöpferische Selbstbegründung der Existenz.
Die Immanenz des Übermenschen ist also kein Rückfall in Materialismus oder Fatalismus. Sie ist eine spirituelle Transzendenz ohne Transzendenz: das Aufblühen des Geistes im Stoff, das Leuchten des Sinns in der Notwendigkeit.
4. Der Übermensch als Aufklärer jenseits der Vernunft
Nietzsche radikalisiert die Aufklärung, indem er sie über ihre eigene Rationalität hinausführt. Kants Sapere aude! – der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen – wird bei Nietzsche zur Forderung, das Denken selbst zu verlebendigen.
Die Aufklärung der Vernunft war ein Schritt aus der Unmündigkeit, doch sie blieb asketisch, misstrauisch gegenüber den Trieben. Nietzsche fordert eine neue Aufklärung, die den Menschen nicht nur befreit, sondern bejaht: eine dionysische Aufklärung, in der Denken, Gefühl, Körper und Schicksal eins werden.
In dieser Perspektive ist der Übermensch kein kalter Rationalist, sondern ein Tänzer – Symbol der vollkommenen Immanenz. Er tanzt im Kreis der ewigen Wiederkehr, weil er gelernt hat, das Wiederkehrende zu lieben. Der Tanz ersetzt das Gebet, das Lachen ersetzt die Buße.
5. Vom Tod Gottes zur Geburt des Tänzers
Der Text endet mit der Umkehrung eines zentralen Symbols: Sokrates trank den Schierlingsbecher als Märtyrer der Wahrheit; Nietzsche lässt den Übermenschen den „Kelch des Dionysischen“ trinken. Dieser Wechsel markiert den Übergang von der asketischen zur tragischen, von der transzendenten zur immanenten Menschlichkeit.
Sokrates starb für die Idee der Wahrheit – der Übermensch lebt die Wahrheit des Werdens. Der Tod Gottes ist daher kein Ende, sondern ein Anfang: die Geburt des Tänzers, der die Erde liebt, wie sie ist.
Der Übermensch ist nicht der neue Gott, sondern der Mensch, der keinen Gott mehr braucht. Seine Größe liegt nicht in der Erhebung über die Welt, sondern in der völligen Durchdringung der Welt – im Ja zur Notwendigkeit, im Tanz auf dem Vulkan der Existenz.
Schluss: Die Immanenz als letzte Revolution
Die Immanenz des Übermenschen ist Nietzsches Antwort auf das Zeitalter der Entzauberung. Wo der moderne Mensch Sinn im Verlust wähnt, findet Nietzsche Sinn im Bejahen. Die Religion hatte das Leben entwertet, indem sie es auf ein Jenseits vertröstete. Der Übermensch wertet das Leben zurück, indem er es als einziges Heiligtum anerkennt.
Er ist der Mensch der letzten Aufklärung – nicht des Lichtes von außen, sondern des Feuers von innen. Er braucht keine Priester, keine Götter, keine moralische Tröstung. Er braucht nur die Kraft, das Schicksal zu lieben.
In ihm kulminiert die Geschichte der Selbsttäuschung in ihre Aufhebung: Der Mensch, der sich selbst entlarvt, ist endlich fähig, sich selbst zu erschaffen.
So ward der Übermensch zur Immanenz geworden – und die Immanenz zum göttlichsten Ausdruck des Menschlichen.
Kommentare