Der Prozess des Sokrates aus der Sicht von Nietzsches Übermensch
- Martin Döhring
- vor 3 Tagen
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Meine Skizze zum Sokrates-Prozess ist treffend und greift zentrale Spannungen auf, die Nietzsche selbst thematisiert. Zunächst zur historischen Relativität: Ich habe recht, dass die Überlieferung (vor allem Platons Apologie) stark von Platon geprägt ist – eine "Geschichte, die vielleicht wirklich nur an den Haaren herbeigezogen ist", wie ich sage. Nietzsche sah darin eine idealisierte Konstruktion, die Sokrates zum Märtyrer der Vernunft stilisiert, während er ihn selbst als Symptom einer kranken Kultur entlarvte. In Die Geburt der Tragödie (1872) und späteren Schriften wie Jenseits von Gut und Böse porträtiert Nietzsche Sokrates als "Urzarathustra" des Rationalismus: einen dekadenten Denker, der das dionysische Chaos (Lebensrausch, Instinkt) ablehnt und durch apollinische Vernunft-Ideale die griechische Tragödie tötet.

Aus der Perspektive des Übermenschen – der jenseits platonischer Dualismen (Idee vs. Materie, Vernunft vs. Trieb) steht und das Leben als ewige Wiederkehr bejaht – würde der Prozess des Sokrates ambivalent, aber letztlich affirmativ bewertet werden. Lass uns meine drei Punkte aufgreifen und erweitern:
1. Politik: Eine Farce als Vorwand?
Der Übermensch würde das zustimmen – der Prozess war politisch motiviert, ein Racheakt der athenischen Demokratie gegen den Störenfried Sokrates, der Eliten kritisierte und die Jugend "verdorben" haben soll. Nietzsche selbst nennt es eine "politische Intrige", die unter dem Deckmantel von Asebie (Gottlosigkeit) und Jugendverderbnis ablief. Für den Übermensch wäre das jedoch kein Grund zur Empörung: Politik ist immer Machtkampf, und Sokrates' Rolle als "Stecher" (der mit seiner Methode die Schwächen der Athener aufspießt) macht ihn zum natürlichen Feind einer verweichlichten Masse. Der Prozess als Farce unterstreicht nur die Schwäche des Herdenmenschen – der Übermensch lacht darüber, statt zu jammern.
2. Rechtspositivismus: Gerechtfertigt durch athenisches Recht?
Hier wird's nuanciert: Ja, formal gab es das Asebie-Gesetz, und Sokrates' Erkenntnistheorie ("Ich weiß, dass ich nichts weiß") könnte als Angriff auf die Götter (und damit auf die Polis-Religion) gedeutet werden, was die Jugend "verdirbt", indem es Traditionen untergräbt. Der Übermensch würde den Schuldspruch nicht als ungerecht verurteilen, sondern als konsequente Reaktion einer sterbenden Kultur: Sokrates verkörpert den Übergang vom tragischen zum sokratischen (rationalen) Zeitalter, das Nietzsche als Niedergang sieht – eine "Dekadenz", die Instinkte unterdrückt und das Leben verneint. Gerechtfertigt? Im Sinne von Nietzsches Physiologie der Kultur: Absolut, weil es den "kranken" Rationalismus eliminiert, der die dionysische Vitalität Athens zerstört. Der Übermensch bewertet es als notwendigen Schnitt, der Platz für neue Werte schafft – ähnlich wie er den Tod als Chance zum Überwinden sieht.
3. Weiche Verteidigung: Frömmigkeit als Alibi?
Das wäre für den Übermensch zu lasch, fast komisch. Sokrates' "Anzeichen von Frömmigkeit" (z. B. sein Daimonion als göttliche Stimme) sind für Nietzsche bloße Selbsttäuschungen – ein letzter Rest asketischer Idealität, der den Philosophen vor seiner eigenen Nihilität schützt. Der Übermensch würde spotten: Sokrates verteidigt sich nicht radikal genug; statt die Ankläger zu zerlegen, spielt er den Märtyrer und stirbt "fromm", um seine Lehre zu verewigen. Nietzsche lobt den Tod als heroisch ("der größte Alkibiades unter Philosophen"), aber kritisiert die Haltung als feige – der Übermensch würde sterben, um zu leben, nicht um eine Idee zu retten.
Zusammengefasst: Der Übermensch bewertet den Prozess als gerechtfertigte Kastration einer dekadenten Vernunft, die das Leben verarmt. Es ist kein Tragödie, sondern eine Komödie der Schwäche – und ein Aufruf, Sokrates' Fehler (Rationalismus über Instinkt) nicht zu wiederholen. Nietzsche selbst schwankt: Bewunderung für den Tod, Verachtung für den Denker.
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